Das Geheimnis
Aus dem kleinen Schlitz zwischen den Troddeln der samtroten Brokatziertischdecke und dem hochflorigen Wohnzimmerteppich heraus späht sie auf die Füße, die vorbeigehen. Der Raum unter dem Wohnzimmertisch ist ein Schutzraum, aber die Angst vor dem nahenden Besuch lässt sich nicht abhalten, auch in diesen Raum vorzudringen. Überall hin. Die Pendeluhr aus Messing tickt im Hintergrund und vor dem Wohnzimmerfenster kündigt die herabsinkende Nachmittagsdunkelheit an, dass die Stunde naht, in der ihr Geheimnis enthüllt werden wird. Der Besucher wird es verkünden, er wird sie vor allen entblößen und es wird zu dem Moment kommen, den sie bereits seit dem Sommer fürchtet. Den sie immer wieder kurzzeitig vergessen konnte, aber an den Abenden, in denen sie in ihrem Bett liegt, wächst in der Dunkelheit die Panik, wie sie auch jetzt wieder wächst und wächst, eine Art fiedelndes Brennen, eine Art körperlicher Schmerz, gegen den sie sich unter dem Tischchen zusammenrollt. Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr.
Sie kann die Uhr nicht lesen. Noch immer nicht, aber das ist auch ein Geheimnis. Sie hat so viele davon. Und niemanden, mit dem sie ihre Geheimnisse teilen kann, nicht ihren Bruder, dem sie hinterhergelaufen war an dem Nachmittag im Spätsommer. Dem sie immer hinterherlief, was sollte sie auch sonst tun. Sie waren in einer kleinen Gruppe an Kindern zu den Feldern am Waldrand gelaufen. Dort stand in einer Scheune ein alter Traktor, auf dem man gut klettern konnte und vor der Scheune grasten die Milchkühe des Bauern. Schwerfällig und mit gewaltigen Eutern schritten die Tiere über die schattigen Wiesen, rupften ihr Gras und standen herum, bis die Kinder zur Tat schritten. Cowboy spielten. Sie stand am Rand, als die Jungs der Truppe mit Stöcken bewaffnet unter dem Zaun hindurch auf die Weide schlüpften und den schwerfälligen Tieren einmal ordentlich einheizten. Die Kühe muhten und versuchten, den Stockschlägen der Kinder auszuweichen, mit ihren Körpern, die lediglich einem Zweck dienten, aber nicht dem, bei der Inszenierung eines Cowboystücks mitzuwirken. Einer der Größeren ging dazu über, die Kühe von der Seite anzuspringen, um sie umzuschubsen.
Sie erinnert sich, dass sie sich in diesem Moment gefühlt hatte, wie unter Glas. Als wäre sie nicht anwesend, als könnte sie nicht greifen, was geschah, als wäre sie verstrickt, aber irgendwie auch nicht. Nur das Muhen der Tiere drang in sie ein, gequält, unwillig, erschrocken. Aber dann hörte sie den lauten Schrei. Vom Feldweg zur Weide hin näherte sich eine Gestalt in blauem Arbeitseinteiler mit einer Mistgabel in der Hand. Sie näherte sich schnell und sie brüllte: „Saubbande! Lassts ihr meine Viecher in Ruah!” Der Bauer rannte und schwang die Mistgabel vor sich her. „Wenn I eich dawisch, dann habts as genau beinand!”
Zuerst feixten die Jungs noch hinüber zum aufgebracht Wütenden, aber dann stoben sie in alle Richtungen davon. Kurz stand sie noch da, am Rand der Weide. Sah die Mistgabel näherkommen. Dachte an das, was ihr daheim blühen könnte, würde sie der Bauer zu den Eltern bringen. Vorne lief ihr Bruder. Er war schon fast im Mischwald verschwunden. Ohne sie, denn für ihn war sie nicht da. Er war schon weg. Niemand war da. Da lief sie ihm nach. Was sollte sie auch anderes tun. Hinter ihr brüllte die Stimme, vor ihr öffnete sich der Wald und sie rannte und rannte, bis sie zur Fichtenmonokultur kam. Dort hielt sie an. Versteckt hinter herabhängenden Zweigen fiel es ihr ein, dass sich so das Wild fühlen musste. Gejagt von einem Jäger, erschöpft mit einem sengenden Brennen in der Lunge. Lauschend. Keine Geräusche waren zu hören. Sie war allein.
So ist das gewesen im Sommer. Seitdem hat sie voll Angst auf diesen Abend gewartet, wenn der gewaltige Mann mit roter Mütze und langem, weißen Bart in ihrem Wohnzimmer stehen wird. Er würde sein goldenes Buch öffnen und vor ihren Eltern verkünden, was sie getan hat. Und dann würde die Welt untergehen, wie sie schon ein paar Mal untergegangen war, oft genug, um zu wissen, wie es sich anfühlte, in einer Welt zu leben, die untergehen konnte. Danach schritt man weiter allein durch dieses Nichts. Was sollte man auch anderes tun.
Da klingelt es an der Tür. Die Stunde ist jetzt gekommen. Die Brokattischdecke wird angehoben. „Er ist da. Komm jetzt raus,” sagt die Mutter und dann steht sie schon vorne neben dem Plattenspieler des Vaters, aufrecht, sehr klein vor diesem riesigen Mann und seinem Bart, so weit oben, sie muss ihren Kopf sehr stark strecken, um seine Augen zu suchen unter den buschigen Brauen.
Er öffnet sein Buch mit dem goldenen Einschlag und einem roten Kreuz darauf. Sie hat das Gefühl, sie könnte gleich ohnmächtig werden, aber das könnte auch eine Erlösung sein.
Dann liest er: „Du bist dieses Jahr wirklich sehr brav gewesen, hast stets dein Zimmer aufgeräumt, hast deinen Eltern wenig Sorgen bereitet. Bleib so brav, mach deinen Eltern weiter Freude, dann bekommst du auch nächstes Jahr wieder etwas Feines von mir.” Er greift neben sich, wo ein kleiner Sack aus Jute steht, den er ihr überreichen möchte.
Erst will ihr Arm sich noch nicht bewegen, er wartet, wartet, ob da noch etwas kommt. Ob das schon alles gewesen ist. Wo war ihr Geheimnis? Wann würde er ihr Geheimnis enthüllen? Sie rührt sich nicht.
„Nun, mein gutes Kind, hab’ keine Scheu, hier ist dein Geschenk von mir, dem heiligen Nikolaus!”, drängt die Stimme des Riesen vor ihr.
„Gutes Kind,” hat er gesagt. Der Riese hat keine Ahnung. Er weiß es nicht. Er weiß nichts von ihr. Er kennt ihr Geheimnis nicht. Niemand kennt ihre Geheimnisse. Niemand kennt sie und niemand will sie kennen.
Sie ist allein, aber für heute ist sie noch einmal davongekommen. Doch wenn dieser gewaltige Riese nichts von ihr weiß, ihre Schuld nicht kennt und sie nicht verraten kann an die, deren Richtspruch sie eigentlich fürchtet, dann ist das fast wie ein kleines Licht in ihrem Dunkel. Denn dann kann es sein, dass sie noch mehr Geheimnisse wird bewahren können, so lange, bis sie eines Tages in Sicherheit ist.
Von mimikrithu
Kommentar hinzufügen
Kommentare